Vom Recht der Orgel (Declaration of Organ-Rights)

 


Anlässlich des Podiumsgesprächs im Rahmen der 50. Internationalen Orgeltagung der GdO am 8. August 2002 in der Musikhochschule Luzern habe ich erstmals Gedan­ken skizziert zum Umgang mit so genannten inaktuellen, bestehenden Orgeln und die Forderung einer Art von „Declaration of Rights“ wie in England 1689. Der Präsi­dent, Prof. Wolfgang Baumgratz, erteilte mir danach spon­tan den Auftrag, in »Ars Organi« mein Votum näher dar­zulegen.

Die stets noch anhaltenden rigoros durchgeführten Ausmerzaktionen von Orgeln der nunmehr sechs Nach­kriegsjahrzehnte sind in einem Grad fortgeschritten, dass kultivierte Menschen alarmiert sind, deren Horizont hin­ausreicht über die Begehrlichkeiten der Fachleute mit ihren rabiaten Umbauten oder dem Ersatz solcher Instrumente.

Zweck dieses Artikels ist beileibe nicht die Verhinde­rung eines zeitgemäßen zeitgenössischen Orgelbauschaf­fens, sondern ganz bescheiden die Proklamation der ‚Rechtsstaatlichkeit‘ auch fir das einzig wirklich öffentliche Musikinstrument, die Orgel. Der Schreibende hat als Fach­berater sowohl historisierende als auch moderne Projekte begleitet und zählt sich auch zu den früheren ‚Mittätern‘. Ein fruchtbarer Lernprozess prägt seine Erfahrungen. In der Fachpresse erscheinen begreiflicherweise kaum Voten, die in Richtung einer solchen Rechtsstaatlichkeit gehen, wohl aus Furcht vor schwindendem Auftragsvolumen fir Neubauten. Immerhin schrieb in der FAZ vom 11. August 2001 Michael Gassmann einen beherzigenswerten Feuille­ton-Artikel „In großer Nähe so fern“. So sollte jetzt nach dem Kahischlag unzeitgemäßer und nichtverstandener oder auch wirklich unbedeutender Zeugen nach 1945 und vor 1990 ein Instrumentarium geschaffen werden, das sol­che Orgein mittels fairem Prozess wahrnimmt, schützt oder ggf. auch zum bedingungslosen Ersatz freigibt. Auch im Orgelwesen ist mit Nachdruck eine wahrhaftige Streit-Kul­tur aufzubauen, was paradoxerweise gerade in kirchlichen Kreisen sehr schwierig ist.

Allein in der Schweiz sind als Beispiele folgende jün­geren Tatbestände anzuführen: Münster Bern (Kuhn, 1930), Kathedrale Lausanne (Kuhn, 1952), Basler Münster (Kuhn 1955), Kathedrale Chur (Gattringer 1940, Späth 1968). Lediglich in Chur konnte die AGSO (Arbeitsge­meinschaft fir schweizerische Orgeldenkmalpflege), zwar erst nach der Beschlussfassung, immerhin noch eine Stel­lungnahme zur Situation nachreichen. In den andern Städ­ten haben lediglich am künftigen Neubau Interessierte über das bestehende Instrument geurteilt, natürlich nega­tiv. Eine angemessene Pflichtverteidigung hingegen fehlte. Die Basler Münsterorgel harrt ihrer Auferstehung in der kath. Kathedrale in Moskau. Deutschland kennt ähnliche Fälle, so etwa die Schuke-Orgel von 1965 in der Tho­maskirche Leipzig, die nach Brandenburg kam. Gegen­wärtig streiten sich in Ansbach der Kirchenvorstand als Befürworter einer hypothetischen Rekonstruktion der Wiegleb-Orgel (1738) mit einer Gemeindebasisbewegung für das Bewahren der Steinmeyer-Orgel von 1961.

Meine Thesen zum Recht der Orgel sind folgende:

1.   Orgein in Kirchen, Sälen und Hochschulen sind öffent­lich.

2.   Jede Orgel hat Anrecht auf Fortbestand.

3.   Dieses Anrecht kann erst dann verneint werden, wenn nach Abwägung aller einschlägiger Faktoren ein Neubau geboten ist.

4.   Titularorganistinnen und -organisten sind Pfleger der ihnen amtshalber anvertrauten Instrumente, nicht Unter­nehmer.

5.   Steht ein Instrument zur Diskussion, so sind die Orgel-baufirmen getrennt zur Offerierung einzuladen für die Erhaltungsmaßnahmen oder fir einen Neubau.

6.   Ein neues Wahrnehmungs-Gremium wird sich mit zur Diskussion stehenden unzeitgemäßen neueren Orgein im gesamten kunst- und geisteswissenschaftlichen Kontext befassen.

7.   Jede Zeit erschuf Und erschaffi gute und schlechte Orgeln.

8.   In dubio pro reo!

 

Zu Punkt 1

Orgeln, die in öffentlich-rechtlichen Räumen stehen und den entsprechenden Besitzstand aufweisen, gehören genauso in die öffentliche Kulturpolitik wie Harmonie­musiken, Kirchenglocken, das Chorwesen und vieles mehr. Die große Gefahr lauert von zwei Seiten: die Öffent­lichkeit ist zu wenig informiert und daher auch kaum inte­ressiert an Orgein. Das lässt andererseits den Fachleuten freie Hand für unbekümmertes Wirken. So ist das Orgel­konzertwesen Sache eines ganz kleinen Insiderkreises und

-publikums und muss daher ein Nischendasein fristen. Weltweit wei.sen die Musikhochschulen der Orgelausbil­dung einen Platz in der hintersten Ecke zu. Genau diesen Missständen verdanken wir das bisweilen flächendecken­de Ausmerzen von Instrumenten unserer Vorgeneration sowie die Glorifizierung von Instrumenten der Großel­terngeneration. Also braucht die Orgel Offentlichkeitsar­beit.

 

Zu Punkt 2

Orgein sind Werk-Zeuge zur Vermittlung sinnlicher Mit­teilungen. Damit unterstehen sie nur wenig der nutzbrin­genden Geräte-Einschätzung. Vielmehr ist ihre klangliche Aussagekraft a priori Hauptargument für ihren Fortbe­stand vor der technischen Anlage.

 

Zu Punkt 3

Gewisse Ausnahmen sind solche Instrumente, die als materiell unrettbar wahrgenommen werden wegen ihrer unsorgfaltigen, schwachstellenreichen Konzeption und extrem kostengünstigen industriellen Fertigung. Im Blick auf die Stilbereiche eignen sie sich für allzu wenig Musik.

Als Gesichtspunkte für die Wahrnehmung und Ent­scheidungsfmdung einer bestimmten Orgel könnten gel­ten:



 


 IContext zwischen Technologie und Orgelbau zur Zeit  ihrer Erbauung,

 Kultur des seinerzeitigen Orgelbaus,

— Biografie eines Instruments (Titularinnen, Titulare, Got­tesdienste, Uraufführungen, Komponisten, Konzerte),

— Musikgeschichte,

— Kunstgeschichte allgemein und speziell.

 

Zu Punkt 4

In meiner Schrift „Umgang mit unzeitgemäßen Orgeln“ versuchte ich die mitunter unheilvolle Verknüpfüng von Psychologie und Orgelbauenlassen vieler meiner Berufs-kolleginnen und -kollegen nachzuzeichnen. Hier beschrän­ke ich mich auf die Wahrnehmung, dass wir Organistin­nen und Organisten die Neubearbeitung unserer beste­henden Dienstorgein meist aus psychischem, persönlichem Antrieb (Selbstverwirldichung) heraus angehen und vorab Neubauvarianten entsprechend intensiv und beharrlich vorantreiben. Bestehenden Orgeln droht Gefahr immer zunächst von Seiten des ‚Unternehmergeists‘ der Spieler. Danach erst stimmen Orgelbauer und die geschickt instru­ierte Allgemeinheit ins Erneuerungslied an.

 

Zu Punkt 5

Jede Zivilisation pflegt das natürliche Regenerierungs­prinzip von Renovation/Restauration und Innovation. Damit verbunden ist auch der volkswirtschaftliche Zweck solchen Tuns. Nur: hier ist Maß gefragt. Da aber ein gewis­ser materieller Druck stets allgegenwärtig ist, macht es fortan keinen Sinn mehr, bei Neubauprojekten von offe- rierenden Orgelbaufirmen gleichzeitig, sozusagen als Pflichtübung, von denselben Häusern auch noch Angaben einzuholen zur Weiterpflege der bestehenden Orgel. Die Orgelbaufirmen offerieren doch diejenige Lösung als güns­tiger, die von der Auftraggeberseite her favorisiert wird. Wir brauchen daher geschäftlich unabhängige Orgelleute und Musiker, die eine Gemeinde objektiv und vor allem frühzeitig beraten. Auch der übliche Einwand etwa, man könne aus Platzgründen Altes nicht stehen lassen, muss sehr relativ gesehen werden.

 

Zu Punkt 6

Verfassungen und Gesetze brauchen wir, sobald die direk­ten Abmachungen unter Menschen (Bürgerinnen und Bürgern) nicht mehr ausreichen, um z. B. Siedlungspla­nung oder Verkehrsregeln unbürokratisch zu regeln. Ent­sprechende Gremien sorgen als Delegierte der Offent­lichkeit fUr geltende Abmachungen, ebenfalls für deren Beachtung und Anwendung. Im Kunst-Orgelwesen hat sich seit dem Ersten Weltkrieg ja die Gegenwartsbezo­genheit allen Schaffens erschöpft und ist einer Schau über den drei Zeiträumen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewichen. Nur noch im Orgeiwesen hub dann ein beinahe blindes Wirken an unter Verachtung immer jener Erzeugnisse der fünfzig letzten Jahre.

 

 

 

1 Rudolf Meyer, Umgang mit unzeitgemäßen Orgeln. Berlin, Pape­Verlag 1999.

 

Genau für jene Periode muss das Wahrnehmungsgre­mium Verantwortung übernehmen. Dabei ist eine solche absolut einzubinden in den Rahmen der weiteren Kunst-und Geistes- bzw. Musikgeschichte. Es reicht nicht aus, Orgelfragen allein Orgelbauern, Organisten, Pfarrern und der zahlenden Offentlichkeit zu überlassen. Die Resultate sind bisweilen verheerend. Endlich soll in der instrumen­talen Selbstverwirklichung der Orgelleute weise Beschrän­kung auf wirklich Not-Wendendes eintreten.

 

Zu Punkt 7

„Jede Orgel ist Maschine, aber auch Musikinstrument. Jede Orgel ist Musikinstrument und auch Maschine“ (Friedrich Jakob). Doch das Interesse der im weiteren Sinne kommunikativen Offentlichkeit gilt schlussendlich dem Anteil des Tnstrumentalen. Gegenwärtig wird in St. Anton (Zürich) die Taschenladenorgel von 1914 ohne Wenn und Aber restauriert. Die Orgelbauer aus Männe­dorf plagten sich mit Abertausenden von Bestandteilen einer komplizierten pneumatischen Steuerung ab und regulierten sich dabei halb zu Tode. Aber keine Diskussi­on: dies alles dient nicht nur dem technischen Denkmal, sondern einem Klangwesen, das nur mit dieser Infra­struktur jenen Sound hervorzaubert, um dessentwillen restauriert und nicht neu gebaut wurde.

An diesem Beispiel wird die paradoxe Situation beim Erkennen von Orgeln recht deutlich offenbar. Anderes anonymes Beispiel: der Nachbau einer Schnitger-Orgel befolgt aufs Pünktlichste die Baumethoden des Hanse­meisters, also nur „Bio-Materialien“ bis zum geflößten Holz. Alles stimmt außer der Raum: das Instrument ist baulich zwar eine Meisterleistung, musikalisch infolge zu großer Penetranz jedoch nur bis zur 4‘-Lage zu gebrau­chen. Erst nach einer gründlichen Instruktion der Hören-den durch den Fachmann ist möglicherweise eine ganz kleine Türspalte zum Verständnis aufgegangen. Damit möchte ich aufzeigen, wie heikel es ist, aufgrund von schlagwortartigen Vereinfachungen Urteile zu fallen wie:

pneumatische Orgeln sind Unorgeln, gehören ersetzt; allein dem Wesen der barocken orgelbauerischen Hoch-blüte oder Cavaillé-Coll angenäherte neue Instrumente mit Schleifwindladen verdienen Wertschätzung.

 

Zu Punkt 8

Bei allen Bemühungen um Sorgfalt bleibt stets wirksam die Befangenheit, eine weitere Gabe unserer psychischen Natur. Denken wir an Orgelbauer der älteren Generati­on: sie mussten in Deutschland nach 1945 Arbeiten ver­richten, die nach heutigen Gesichtspunkten nur Schrott waren. Heute hat ein weit materialgerechteres, kunst-handwerkliches Bauen Oberhand gewonnen. Wir kennen die Charakteristiken: materialgerecht, optimale Aufstel­lung, mechanische Anlage, Mas sivgehäuse, klassische Gehäuse oder Design. Freilich wird im Klanglichen rich­tig Orgelbewegtes mit Neoromantik vermischt, was im Umgang mit der hierfür begrenzten Schleiflade Probleme schaffi. Das sind die künftigen Argumente für die näch­ste Generation, die auch unseren derzeitigen Produkten an den Kragen gehen dürfte, wenn nicht eine Orgeiwen­de eintritt. Und die Heutigen sind traumatisiert von Orgeln zwischen 1940 und 1970. Es ist ihnen nicht zu ver­



 



 

Ansbach, Steinmeyer-Orgel im Retty-Gehäuse.

Foto:  Martin Schneeweiß, Ansbach



argen, wenn unter ihren Augen kaum eines dieser orgel-bewegten Instrumente noch ein Anrecht genießt weiter­zuklingen. Es sei doch bloß ein „Gekrickele“ (Jacob Adlung). Dabei kennen wir Instrumente, die trotz aller negativen Schlagworte wie Industriechassis, Novopan, Aluminiumventile, Nylontrakturen etc. dennoch Musik­Instrumente geblieben sind, die eine jahrzehnte lange Tra­dition aufrecht erhalten (vgl. Punkt 2). Dieser Gesichts­punkt wird oft außer acht gelassen. Es sollte doch viel häufiger eine Unschuldsvermutung vor der Verurteilung geben, wie in jedem rechtsstaatlichen Prozess. Denn jedes Instrument hat ein natürliches Anrecht auf Achtung, gera­de dann, wenn es unter erschwerten Bedingungen von Materialien und Geschäftsaspekten erstellt werden muss­te. Wir Schweizer etwa sollen gewarnt sein, als Kriegs­verschonte überheblich zu werden. Wann endlich wird der sogenannte Nachkriegs-Orgelbau in Europa wenigstens rehabilitiert, keinesfalls glorifiziert? Hüten wir uns vor einer abermaligen Liquidierung einer ganzen Schaffens-periode! Vielmehr sollten wir uns bemühen, gültige Bei­spiele jener Zeit aufzuspüren und für ihren Erhalt gerade zu stehen. Und nicht unter Zufligung des bald ‚ewig-obli­gaten‘ französischen Récits (Petrikirche Mülheim an der Ruhr, Marienorgel der Basilika Ottobeuren), denn das sind doch Umbauten unter Veränderung der instrumen­talen „Genstruktur“.

‚In dubio pro reo‘ kann auch bedeuten, dass da und dort eine bestehende Orgel ergänzt werden kann durch ein völlig unabhängiges zweites Instrument. In Winterthur hat­ten wir uns 1978 dazu entschlossen, um der Erhaltung der Walcker-Orgel von 1888 willen.

 

 

ZUM BEISPIEL: DIE STEINMEYER-ORGEL IN DER GUMBERTUSKIRCHE ZU ANSBACH

 

Bevor eine zusammenfassende Darlegung der Situation in Ansbach gegeben wird, möchte ich ausdrücklich festhal­ten, dass in diesem Rahmen nur das Wesentlichste gesagt werden kann, und es werden auch keine Persönlichkeiten namentlich angeführt. Dabei setze ich mich durchaus dem Vorwurf aus, nicht genau zu informieren. Es geht hier um das Grundsätzliche, die Hoffnung, dass dort oder anders­wo vielleicht erstmals eine sorgfältige ‚Urteilsfindung‘ ange­gangen werden möge.

Es geht darum, ein bestehendes Instrument zunächst einmal in seiner Bedeutung einzuschätzen. Ein solches, unbefangenes Pflichtplädoyer der Verteidigung fehlt in den dort öffentlich zugänglichen Unterlagen, da für die Gemeindeleitung und die Bach-Wochen ein neues Instru­ment im Vordergrund steht. Der örtlichen Gemeindeba­sis hingegen liegt die Beibehaltung der gegenwärtigen Orgel am Herzen. Nun versucht jede der Parteien, unter Ausschöpfung aller möglicher Mittel zu ihrem Ziel zu kommen. Es wird gar der ‚Kirchenfriede‘ bemüht, um die Opposition gegen das Neubauprojekt zu dämpfen. Kei­nesfalls muss es dazu führen, dass ein Pflichtplädoyer die Steinmeyer-Orgel rettet. Dennoch geht es zunächst um das Mandat eines quasi rechtsstaatlichen Gerichts. Die Leute, welche die Steinmeyer-Orgel schätzen, sind vor geraumer Zeit an mich herangetreten, um einen Dialog in

Gang zu bringen mit den Protagonisten des Wiegleb-Pro­jektes. Hier folgend die Argumente beider Parteien.

 

Anklage

1. Die bestehende Steinmeyer-Orgel steht zu unrecht und ungeordnet im Prachtgehäuse von Leopoldo Retty (Anm. d. V.: eben nicht Wiegleb) von 1738.

2. Das Konzept von 1961 gleicht einer Vergewaltigung von Geschichte und Bauanlage zu St. Gumbertus. Die Spitze dieses Skandals ist der freistehende Industriespieltisch.

3. Die damaligen Sachverständigen (u. a. Friedrich Hog­ner) und die Orgelbauer aus Oettingen haben nicht nur letzte Wiegleb-Restbestände beseitigt, sondern höchst eigenwillig ‚ihre‘ Traumorgel erschaffen mit all den vielen Obertonspielereien.

4. Die (Anm. d. V.: nicht restlos Idare) Originaldispositi­on von Wiegleb von 1738 wurde vorsätzlich übergangen. 5. Die musikalischen Möglichkeiten sind nicht mehr aktu­ell und taugen seit Jahren kaum mehr. Die Orgel ist weder Fisch (Schwellwerk) noch Vogel (süddeutscher Orgelbe­wegungsbarock). Von einer nur annähernd gültigen Into­nationskunst ist keine Spur vorhanden: alles flüstert, ist zu wenig durchintoniert, zuviel verspielt und einfach zu schwach. Es fehlt jene Gravität, an die wir bei Wiegleb gemäß unserer Vermutungen glauben. (Anm. d. V.: wo fin­det sich bei Wiegleb Gravität?)

6. Das Instrument musste schon zweimal technisch ver­bessert werden und befmdet sich heute in einem Zustand, der einer anspruchsvollen Gemeinde nicht mehr zuge­mutet werden kann.

7. Diese Orgel soll irgendwo im Osten weiterleben dürfen. So ist Raum frei zugunsten einer allseits befriedigenden Neubaulösung in Richtung Wiegleb. Freilich soll es sich dabei nicht bloß um eine hypothetische, historisch korrek­te Rekonstruktion handeln, sondern um einen Neubau, der auch die Bedürfnisse der Gegenwart mit einbezieht.

8. Wir verfügen über mehr Wissen und ein besseres Hand­werk.

 

Plädoyer

1. Dieselbe Behauptung wie in der obenstehenden Ankla­ge gegenüber dem vorgefundenen ‚entstellten‘ Zustand legitimierte bereits den Neubau von 1961.



 



 

Ansbach, freistehender Spieltisch.

Foto:  Martin Schneeweiß, Ansbach



2. In Kenntnis der Wiegleb-Disposition von 1738 ent­schied man sich für eine zeitgemäße Übertragung von 1738 im Lichte der kreativen Sprache der sechziger Jahre. Man trachtete danach, etwa die dreifache 2‘-Belcgung im Oberen Werk bei Wiegleb in verschiedene Obertonregi­ster zu verteilen. Man denke dabei auch an die Schuke­und die Woehi-Orgel in der Thomaskirche zu Leipzig, an das Großmünster Zürich, die St. Andreaskirche zu Hil­desheim, Saint Séverin zu Paris, Utrecht St. Nicolai, Bolo­gna Sta. Maria del Servi, Berlin St. Marien, oder an die Restaurierungen in Ochsenhausen, Klosterneuburg und Stade St. Cosmae, die in jüngster Zeit allesamt re-restau­riert worden sind!2

3. Die Steinmeyer-Orgel von 1961 entspricht dem dama­ligen Bewusstsein von der Orgelkunst, die sowohl die Gegenwart in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit Pepping, Reda, Bornefeld ii. a. als auch die bereits restaurative Bach-Pflege mit Karl Richter, Hedwig Bilgram und den Ansbacher Bach-Wochen zu vereinigen trachtete. Welche analogen Einfälle zur Erneuerung des Orgeiwesens wer­den denn heute angeboten? Füllen wir nicht allzu gerne bei Neubauten alten Wein in neue Schläuche?

4. Sorgfältige Orgelleute lassen bei ihrer Annäherung an die Gumbertus-Orgel vereinfachende Schlagworte über Grundqualitäten einer Orgel beiseite. Dabei entdecken sie zunächst einmal ein wunderbar singendes ‚neues‘ Princi­pal 8' im Hauptwerk. Danach geht es folgerichtig weiter. Alles ist aufeinander in der Weise abgestimmt, dass nichts vorlaut klingt, zusammen dann aber jenes Organum Ple­num hergibt, das während einer Viertelstunde den Hörer im fließenden Klang hält. Diese vornehme Zurückhaltung gibt der gesamten Literatur nach 1930 besten Raum. Gera­de Meister um 1940 bis 1960 wie Hugo Distler, Siegfried

 

 

 

2 Wolfgang Rehn, Gedanken und Fragen zur Orgeirestaurierung im neuen Jahrhundert. Pflichten, Rechte und Möglichkeiten des Restau­rators. In: Acta Organologica Ed. 27, 2001, S. 179—186.

Reda, Ernst Pepping, Jehan Ajain, Olivier Messiaen, Frank Martin oder auch die gesamte nordeuropäische Welt samt England sind hier gerne gehörte Gäste. Die Universalität der Bachschen Musik hatte dabei zu keiner Zeit je Berührungsängste. Diese Orgel macht heute Musik, die geplante erst in den Träumen.

5. Der Zustand der Orgel kann nicht derart katastrophal sein, denn alles funktioniert und klingt tadellos, wird aber wohl den normalen Unterhalt beanspruchen dürfen, der in keinem Verhältnis steht zum Aufwand für den kom­pletten Neubau mit 43 Registern. Das Verschenken einer unzeitgemäßen Orgel hört sich barmherzig an und klingt nach Entwicklungs- und Förderhilfe. Erstens wirddas dis­lozierte Instrument deplaziert wirken und klingen. Zwei­tens hält man die Beschenkten für anspruchsloser. Drit­tens ist die Abschiebung die Verdrängung der Verantwor­tung für eigenes Handeln. Und viertens wird all jenen ‚ihre‘ Orgel gestohlen, die sie schätzten. Eine beredte Zeugin verschwindet von ihrem Wirkungsort.

6. ‚In dubio pro reo‘ im Zweifelsfall für die angeklagte Steinmeyer-Orgel. Es sei in der sehr geräumigeri Gum­bertuskirche als Zweitorgel eine möglichst getretje neue Wiegleb-Orgel kleineren und belegbareren Maßes als Aus­gleich vorzusehen. Ein sorgfältiger Dialog mit dem Denk­malsamt wäre dabei unerlässlich unter entsprechender Bewertung der Steinmeyer-Orgel.

 

Synopse

Es folgen hier die beiden Dispositionen von 1738 und 1961. Sie sagen ja nur bedingt etwas aus über das musikalische Pifichtenheft, etwa wie der Speisezettel einer Gaststätte. Wie die Steinmeyer-Disposition tönt, kann überprüft wer­den. Ob denn Wieglebs höchst eigenwillige und von jeder großen Schule doch entfernte Disposition z.B. jene Gra­vität aufweisen wird, mit der die Protagonisten die Spen­densaminler motivieren möchten, ist doch einer Anfrage wert. Niemand weiß, ob die ausführenden Orgelbauer der­einst in der Lage sein werden, Wiegleb besser zu realisie­ren, als damalige Zeitzeugen berichteten, oder immerhin so überzeugend, wie es heute erträumt werden darf.

 

Ein Parallelheispiel in der Schweiz

Zum Schluss noch ein Vergleich mit einem Instrument schweizerischer Provenienz, wie es aus einer ähnlichen Haltung heraus 1962 in der Stadtkirche Aarau von Orgel-bau Kuhn AG mit dem Experten Ernst Schiess erschaf­fen ward. In das 1756 von Johann Conrad Speisegger erstellte Prachtgehäuse mit Principal 16‘ fur etwa 30 Regi­ster, das ab 1891 vom Lettner auf die Westempore versetzt ward und danach eine durch Goll & Cie. AG umgebaute größere Orgel unter Entfernung des Rückpositivs beher­bergte, wurde ein völlig neues Werk mit vier Manualen und 61 Registern eingebaut. Auch hier wurden keine älte­ren Pfeifenbestände weiterverwendet mit Ausnahme des hölzernen Untersatz 32‘. Freistehender Spieltisch, frei neu­erfundenes Rückpositiv oder auch unpassende spitze Pro­spektlabien gehören dazu. Das Gehäuse dient lediglich noch als Paravent, indem dahinter und daneben hinter Lamellen (heute Schnitzwerk) alles untergebracht ist, was im Speisegger-Konzept keinen Platz gefunden hätte. Frei­lich, die kriegsverschonten Schweizer konnten bessere



 


 

Ansbach, St. Gumbertus

Werk G. F. Steinmeyer, 1961

I.  HAUPTWERK

16‘

8‘

8‘

8‘

4,

4,

5 1/3'

 

 

2‘

2 2/3'

 

2‘

 

8‘

III. KRONPOSITIV

Stadikirche Aarau, Orgelsituation seit 1962.

Foto:  Festschrift zur Orgeleinweihung 1962

 

 

Ansbach, St. Gumbertus

Wiegleb-Disposition von 1738

I.  HAUPTWERK C-d3 II. OBERES WERK

 



 

 


Pommer

Prinzipal

Gedeckt

Gemshorn

Oktave

Spitzflöte

Quinte

Hohifiöte

Rauschquinte

Mixtur 5f.

Zimbel 3f.

Trompete

Copula

Blockflöte

Oktave

Quintlein

Sesquialter 2f.?

Jauchzendpfeife 3f.1’

Terzzimbel 4f. 4/5'

Regal (Vox humana)

Cymbeistern


II. OBERWERK (Schwellwerk)

Grobgedackt

Salizional

Gamba

Ital. Prinzipal

Rohrflöte

Quinte

Waldflöte

Oktävlein

Echocornett 3-4f.

(mit None)

Mixtur 6f.

16’ Fagott

8’ Oboe

4’ Schalmey

          PEDAL• C—f‘

     8‘  Prinzipal

    4‘  Violonbass

     2‘  Subbass

    1 1/3‘ Quinte

     2 2/3'   Oktavbass

     1‘  Gedecktbass

            Prinzipaffiöte

     8‘  Nachthorn

          Basszink 4f.

2 2/3‘ Mixtur 4f.

8’ Posaune

8’ Trompete

8’ Clarine

 

2‘

1‘

 

 

1 1/3'

 

16‘

8‘

4,

 

 

Mechanische Traktur, freistehender Spieltisch, 6 Nor­malkoppeln, 6 Setzer, Tremulanten OW, KP.

 

Materialien verarbeiten als die Deutschen. Aber ist allein dies die Ursache, dass weder in Aarau als noch viel weni­ger bei Kuhn in Männedorf jemand den Wunsch äußert, dem Speisegger-Gehäuse aufgrund der Aktenlage wieder die kongeniale Orgel zurückzugeben? Auch persönlich habe ich ein ausgesprochen positives Verhältnis zu dieser Orgel, ich unterrichtete und konzertierte dort während Jahren für die C-Ausbildung der Aargauer Organistinnen und Organisten.

 

„Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“ (J. W. v. Goethe), dieser Satz könnte zu jener neuen vorab inneren Haltung im Orgelwesen führen, die erkennt, dass nur allein der sorgfältige Umgang auch mit jüngeren Erbschaften in eine tatsächlich kreative Zukunft führen kann. Möchten wir daraus nicht auch Mut zur schöpferischen Demut schöpfen?

16‘

16‘

16‘

10 2/3'

8‘

8‘

4,

2‘

5 1/3‘

2 2/3'

16‘

8‘

     4‘            Quintatön

Principal

Gross Gedackt

Flut travers ab c

Gembsborn

Viola da Gamba

Octave

Klein gedackt

Quint

Superoctave

Sesquialter 2—3f.

Mixtur 8, 9, lOf.

Trompete

Hoboe d‘amore

16      Salicional

8‘     Quintatön

8‘     Gedackt

8‘     Principal

8‘     Rohrflöte

8‘     Blockflöte

4‘     Octav

4‘     Flaglet

3‘     Waldflöten

2‘     Quint

          Mixtur 4f.

          Fagott

          Vox humana

2‘

8‘

8‘

8‘

8‘

8‘

4,

4,

4,

2‘

2‘

2‘

1 1/2'

 

1‘

16‘

8‘

32‘

16‘

16‘

16‘

8‘

6‘

4,

 

III.    MITTLERES WERK BÄSSE C—d‘

Quintatön                                 8‘ Subbass

Principal                           4‘ Principalbass

Petitflöte                               4\ Violonbass
Spitzflöte                     4‘
\ Quintadenbass

Nassat                                  3‘ Octavbass

Salicionettgen                     2‘ Quintbass

Nachthorn                            2‘ Bassetchen

Echo (5f.?)                            Mixturbass 6f.

Cimpelbass 2f.

Posaunenbass

Sperrventile Manual und ganzes Werk, 3 Koppeln, Tre­

mulant, 10 Bälge, Cymbeistern

4,

2‘

16‘